Afghanische Frauen werden doppelt bestraft, wenn sie im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihren Angehörigen nach Österreich wollen. Einmal für die Unzulänglichkeiten des afghanischen Bildungssystems nach vierzig Jahren Krieg. Ein weiteres mal bei der Anforderung, ein A1-Sprachzertifikat vorzulegen. Von unmöglichen Dingen in unvorstellbaren Zeiten.
Meine Mandantin, eine junge afghanische Frau mit Schulabschluss in Afghanistan, möchte zu ihrem Ehemann nach Österreich und beantragt einen Aufenthaltstitel. Mit dem Antrag legen wir ihr Schulabschlusszeugnis vor. Das berechtigt sie in Afghanistan zum Besuch der Universität. Mit diesem Zeugnis sollte nachgewiesen werden, dass meine Mandantin alphabetisiert ist und damit das Modul 1 der Integrationsprüfung erfüllt (§ 9 IntG). Damit erspart man sich das ansonsten notwendige A1-Sprachzertifikat bei einer Familienzusammenführung (§ 21a NAG).
12 Jahre Schulbildung in Afghanistan = 10 Jahre in Österreich
Nach 9 Monaten im Verfahren wird mir von der Aufenthaltsbehörde (MA35) die kurze Einschätzung von ENIC Naric Austria übermittelt. ENIC Naric bewertet ausländische Bildungsabschlüsse. Die ernüchternde Einschätzung lautet, dass das Zeugnis meiner Mandantin nicht jenes Niveau erreicht, dass der allg. Universitätsreife oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht. Mit anderen Worten: Mit diesem Zeugnis ist das Modul 1 der Integrationsprüfung nicht erfüllt. Meine Mandantin braucht ein A1-Sprachzertifikat.
Der Grund dafür: Das afghanische Bildungssystem liegt nach 40 Jahren Krieg am Boden. Lehrer sind schlecht ausgebildet, verfügen selbst teilweise nur über einen Pflichtschulabschluss. Der Unterricht findet nur unregelmäßig statt. 12 Jahre Schule in Afghanistan entsprechen 10 Jahren Allgemeinbildung in Österreich. Vor allem Mädchen werden grob benachteiligt.
Die Behörde fordert daher meine Mandantin auf, binnen 2 Wochen ein A1-Sprachzertifikat vorzulegen.
Unüberwindbare und lebensgefährliche Hindernisse
Diese Aufforderung stellt meine Mandantin vor riesige Probleme.
- Problem: In Afghanistan gibt es kein zertifiziertes Institut um eine A1-Sprachprüfung abzulegen. Meine Mandantin muss daher nach Pakistan reisen, um in Islamabad die Prüfung abzulegen.
- Problem: Für eine Reise nach Pakistan benötigt sie als afghanische Staatsangehörige ein Visum. Aufgrund der enormen Nachfrage auf Visa nach Pakistan, hat sich zwischenzeitlich ein Schwarzmarkt gebildet. Die Wartezeit für ein Visum dauert in der Regel mehrere Wochen bis Monate – außer es werden Bestechungsgelder gezahlt.
- – und das wesentlicheste – Problem meiner Mandantin ist die völlige Entrechtung von Frauen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021. Meine Mandantin kann sich faktisch nicht frei bewegen, darf nicht alleine innerhalb von Afghanistan reisen und darf Afghanistan nicht ohne männliche Begleitung verlassen. Es gibt Berichte, wonach die Taliban junge Studentinnen an der Abreise hinderten, sie festnahmen und verhörten, weil sie ohne männliche Begleitung ins Ausland reisen wollten, um ihr Studium fortzusetzen. Nicht zuletzt ist Afghanistan ein sehr gefährliches Land. Von den Taliban selbst geht für die Bevölkerung und für Frauen eine große Gefahr aus. Jede Reise ist ein gefährliches Unterfangen.
Das bedeutet, dass meine Mandantin für sich und einen männlichen Begleiter ein Visum organisieren, sich unter widrigsten Umständen – ohne öffentlich zugängliche Kurse und miserabler Internetverbindung – auf die Deutschprüfung vorbereiten muss, um dann so rasch wie möglich die Prüfung abzulegen, wobei sie dafür eine lange und gefährliche Reise auf sich nehmen muss.
Das Gesetz sieht für bestimmte Situationen Ausnahmen von der Verpflichtung vor (§ 21a Abs 5 NAG). Die geschilderten Probleme meiner Mandantin werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als eine solche Ausnahme akzeptiert werden.
Ich habe für meine Mandantin eine großzügige Fristverlängerung bis in das nächste Jahr beantragt. Sie wird versuchen die Prüfung abzulegen. Ob die Behörde so lange zuwartet oder den Antrag umgehend abweist, wird sich zeigen.
Foto: „Empowering Afghan Women“ by DVIDSHUB is licensed under CC BY 2.0. https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/?ref=openverse